Rezension: „recreating the past“


Wer eine archäologische Ausgrabung besucht kennt das Gefühl: Umgeben von durcheinandergewürfelten Säulenscheiben, Erdhügeln oder spärlichen Grundmauern fällt es oft schwer, sich das einstige Erscheinungsbild von Tempeln, Befestigungen und Gebäuden – geschweige denn das frühere Leben dort – vor Augen zu rufen. I.d.R. braucht es Expertenwissen, um Steine korrekt zusammenzupuzzeln, die Höhe von Mauern zu bemessen oder die Lage von Tür- und Fensteröffnungen zu bestimmen. Für rekonstruierte Ansichten der einstigen Gebäude ist man daher meist dankbar.
Das Buch „recreating the past“ befasst sich mit dieser zeichnerischen Rekonstruktion der Vergangenheit auf Basis archäologischer Befunde. Die 2001 erstmals herausgegebene Publikation geht auf die Zusammenarbeit des Archäologieprofessors Mick Aston und des Graphikers und Illustrators Victor Ambrus in der beliebten britischen Fernsehserie „Time Team“ zurück, die von 1994 bis 2014 auf Channel 4 ausgestrahlt wurde. Die auf die stolze Zahl von 280 Episoden zurückblickende Serie wurde von dem Schauspieler Tony Robinson moderiert, der Freunden des britischen Humors aus der Serie „Blackadder“ bekannt sein dürfte. Mick Aston fungierte als wissenschaftlicher Berater der Serie und trat in vielen Folgen auch als Grabungsleiter in Erscheinung. Victor Ambrus begleitete die Arbeit der Archäologen vor Ort als Zeichner.
Die wissenschaftlich fundierten Ausgrabungen fanden an von Sendung zu Sendung wechselnden Standorten in allen Teilen des Vereinigten Königreichs – und vereinzelt auch darüber hinaus – statt und unterlagen gemäß dem Konzept von Time Team stets einem zeitlichen Limit von drei Tagen. Dabei deckte die Sendung alle Epochen von der prähistorischen Frühzeit bis zum 2. Weltkrieg ab und war sowohl an entlegenen schottischen Brochs und in beschaulichen englischen Dörfern, als auch an prominenten archäologischen Stätten wie Sutton Ho zu Gast. In manchen Sendungen ergänzten historische Recherchen oder experimentelle Archäologie die Dokumentation der Grabung.
Ein Großteil der in „Recreating the past“ enthaltenen Bilder, v.a. Bleistiftzeichnungen und Aquarelle, entstand im Rahmen der Sendung. Vereinzelt sind neben den Illustrationen auch Fotos, Bodenradaraufnahmen oder handgezeichnete Pläne enthalten. Das 120 Seiten umfassende Buch reflektiert das von „Time Team“ behandelte thematische und zeitliche Spektrum und ist chronologisch in neun Kapitel von „Prehistory“ bis „recent past“ gegliedert. Wie in der Sendung liegt dabei ein gewisser Schwerpunkt auf der römischen und angelsächsischen Periode sowie dem Hochmittelalter.
Ausgehend von konkreten Grabungen werden Siedlungsstrukturen, die Funktion und Anlage von Gebäuden, Bestattungsformen, historische Landschaftsformen, oder auch die Wirkungs- und Konstruktionsweise bestimmter Gegenstände thematisiert. Neben den jeweiligen archäologischen Kontexten behandeln die Begleittexte auch die übergeordneten historischen Strukturen und Entwicklungen der jeweiligen Periode, die dort ihren Niederschlag gefunden haben.
Am Beispiel von römischen Villen und Armeelagern, prähistorischen Bauernhäusern und Dörfern, Burgen und Befestigungen, Palästen, Klöstern oder auch Produktionsstätten wie Ziegeleien oder Schiffswerften werden sozioökonomische Strukturen, religiöse Praktiken, Kriegsführung, landwirtschaftliche und industrielle Produktionsweisen und viele andere Aspekte thematisiert.
Die Zeichnungen selbst zeigen dabei meist rekonstruierte Gebäude und Strukturen aus der Vogelperspektive in der sie umgebenden Landschaft, aber auch detailreiche Szenen mit Menschen bei der Verrichtung ihrer Alltagstätigkeiten oder bei Kampfhandlungen.
Besonders interessant sind die Ausführungen der Autoren zur praktischen Zusammenarbeit zwischen Archäologen und Illustratoren. Die Zeichnungen entstanden innerhalb der dreitägigen Grabungsperiode und unterlagen in dieser Zeit einem kontinuierlichen Veränderungsprozess, da aufeinanderfolgende Entdeckungen und Erkenntnisse eine Neuinterpretation der bisherigen Befunde und Hypothesen erforderten. Im Zuge dieses dynamischen und kontinuierlichen Austauschs entstanden pro Grabung zwei bis drei Illustrationen.
Ein Mangel an eindeutigen Spuren erforderte in manchen Fällen die Heranziehung von Untersuchungsergebnissen an analogen Fundorten, um eine plausible Rekonstruktion zu gewährleisten. Bei einem Fund menschlicher Überreste mit Spuren von Verletzungen führten genetische und pathologische Analysemethoden zu einer Neubewertung des Verletzungshergangs, nachvollziehbar in Victor Ambrus dramatischen Illustrationen. Für die lebendigen Alltagsszenen standen dem Zeichner bisweilen auch re-enactment-Gruppen in zeittypischen Kostümierungen Modell.
Der zwischen Fund und Illustration liegende Interpretationsprozess und die mit ihm einhergehenden epochenspezifischen Herausforderungen werden dem Leser anschaulich vermittelt. In der Einleitung geht Mick Aston darauf ein, wie Rekonstruktionszeichnungen in der Archäologie genutzt wurden und wie sie die Vorstellungen prägten, die man sich zu verschiedenen Zeiten von vergangenen Gesellschaften machte. Dabei betont er auch den praktischen Wert der Zusammenarbeit von Archäologen und Illustratoren. Die Visualisierung von Grabungsbefunden in Rekonstruktionszeichnungen sei nicht nur ein Mittel, um Laien und v.a. Kindern den Zugang zu einer archäologischen Stätte zu erleichtern, sondern umfasse auch einen fruchtbaren Feedbackmechanismus zwischen Zeichner und Archäologen. Letztere würden dadurch angehalten, ihre Funde zu interpretieren und jene Fragen an einen Fundort zu stellen, die für die künstlerische Konkretisierung erforderlich sind.
Gerade auch aufgrund der Thematisierung der Grenzen und Schwierigkeiten der Rekonstruktion historischer Orte auf Basis archäologischer Erkenntnisse gibt das Buch einen faszinierenden Einblick in diesen Prozess. Die Vielfalt der behandelten Grabungsorte nimmt den Leser mit auf einen Streifzug durch die Archäologie des Vereinigten Königreichs, bei dem sowohl archäologisch Interessierte als auch Freunde der britischen Geschichte auf ihre Kosten kommen. Verschiedene Episoden der Sendung Time Team sind übrigens auf Youtube verfügbar und sehr zu empfehlen.
Victor Ambrus/Mick Aston: Recreating the Past, Neuauflage, Cheltenham 2021 (Erstauflage 2001).
Link zum Buch im Time Team Online-Shop: https://shop.timeteamdigital.com/products/recreating-the-past-paperback?srsltid=AfmBOooI6MljEKONoJj7nrkTKsr8UCIwfgJAqWRciyr7qH8oDU6fqvyh